Zudem hat sich die Art, wie wir Medien konsumieren revolutioniert. Statt nun der Vergangenheit hinterherzutrauern, ein Leistungsschutzrecht zu fordern, oder die Paywall einzuführen, sollten Verlage und Journalisten ihre Arbeitsweise verändern. Soziale Netzwerke sind ein globaler Newsroom, ein direkter Draht zum Leser und ein großartiger Verbreitungskanal.
Freunde und Algorithmen bestimmen meinen Medienkonsum
Im Herbst 2011 habe ich ein Experiment gewagt, ich habe für zwei Wochen lang mit einer Berliner Journalistin meinen Facebook Account getauscht. Sozusagen meine digitale Identität: Wir haben uns gefragt: Wer von unseren Freunden merkt, wenn wir nicht mehr wir selbst sind?
Das Projekt und das Tagebuch, das wir damals geführt haben, können Sie unter egotausch.de nachlesen. Unsere Freunde haben lange nichts gemerkt.
Aber die Algorithmen haben schnell auf den Identitätswechsel reagiert: Wir sahen schnell andere Werbung und bekamen völlig andere Vorschläge. Für ein paar Tage konnten wir der Personalisierung von Facebook entkommen – indem wir nicht mehr wir selbst waren.
Und Plattformen wie Facebook sind weitausmehr als soziale Netzwerke: es ist der soziale Klebstoff, der sich durch unsere Online- und womöglich auch bald Offline-Aktivitäten zieht.
Unsere Facebook-Freunde, Google+ Kreise oder Twitter-Kontakte bestimmen zunehmend unsere Mediennutzung: Sie filtern für uns das Internet nach relevanten Artikeln, Videos oder Bildern.
Facebook ist Boulevard
Wer schlaue, interessierte Freunde hat, bekommt lesenswerte Quellen frei Haus geliefert. Eine Facebook-Studie kommt zum Schluss, soziale Netzwerke würden uns so zu schlaueren Menschen machen. Wir merken aber auch schnell, dass ein Katzenvideo für viele Nutzer deutlich relevanter ist, als die Eurokrise. Facebook ist längst im Boulevard angekommen. Und so bekommt mit der personalisierten Suche bei Google oder dem Newsfeed bei Facebook jeder den Content, den er will oder verdient.
Es geht nicht mehr um virtuelle Freundschaften, sondern um die Intelligenz der gesponnenen Netze. Anwendungen wie Flipboard basieren auf dieser Schwarmintelligenz. Diese persönlichen Newsaggregatoren sind die Zeitung der Zukunft. Freunde werden zu Kuratoren und Blattmachern. Heute sind es Websites, oder Musikangebote, morgen das Fernsehprogramm, das durch soziale Verbindungen bestimmt wird.
Wir klicken auf geteilte Links oder lassen uns auf dem Tablet oder Smartphone neue personalisierte Online-Magazine mit Inhalten füllen, die uns von Freunden und Kontakten aus sozialen Netzwerken empfohlen werden.
Wir hören personalisierte Musik über Dienste, die unseren Geschmack versuchen zu erkennen und bekommen Werbeangebote, die sich nach unseren Online-Verhalten, unserem sozialen Umfeld in sozialen Netzwerken und Interessen steuern. Meine Freunde werden dadurch zu Medienschaffenden, allein durch ihren Medienkonsum. Quellen, die sich am leichtesten Teilen lassen, finden blitzschnell den Weg in meinem Nachrichtenstrom.
Gefangen in der Filterblase
Unser Medienkonsum wird effizienter, treffsicherer und sozialer. Doch er wird auch langweiliger, vorhersehbar und durch Algorithmen bestimmt. Was ist, wenn wir diesen Algorithmen entfliehen wollen? Müssen wir unser Online-Leben zurücksetzen, bei unseren Freundeskreisen den Reset-Knopf drücken, um etwas Neues und Unerwartetes zu erleben? Müssen wir am Ende sogar versuchen, Jemand anderes zu sein, um die Personalisierung zu überlisten?
Als ich meine Online-Identität getauscht hatte, musste ich feststellen, dass meine getauschten Kontakte meine Links und Kommentare nicht so aufgenommen hatten, wie ich das von meinem eigenen Kontakten gewohnt war. Und ich habe völlig neue spannende Geschichten entdeckt. Ich war raus aus meiner Filterblase:
Der Identitätswechsel beim Egotausch im Sommer war ein solches Fluchtexperiment. Die Antwort darauf könnte eine neue Generation von Journalisten sein. Journalisten, die Teil meiner Filterblase werden wollen, die als Kuratoren Teil meines Netzwerks sein wollen.Sie können mir neue Überraschende Dinge präsentieren. Doch dazu müssen Journalisten einen neuen Workflow beherrschen: Social Media First.
Journalisten müssen die Klaviatur aller sozialen Netzwerke beherrschen
Sie müssen mit ihrer Recherche, ihren Geschichten, ihren Quellen und dem Dialog über Ihr Thema in das Social Web drängen und beginnen es als Infrastruktur zu begreifen. Bei YouTube lassen sich einfach Videos hochladen, auf Flickr schnell Fotoslideshows publizieren, bei Facebook können Sie schon während der Recherche mit Lesern diskutieren. Social Media First heißt nicht dass Sie ihren Artikel bei Facebook posten, sondern der gesamte Entstehungsprozess im Social Web stattfindet. Das ist echtes Crossmedia.
Social Media First bedeutet vor allem vernetzten Journalismus
(Präsentationsfolien vom Scoopcamp in Hamburg, Audiomitschnitt vom European Newspaper Kongress in Wien)